Kreiswärts oder aufwärts?

Im Folgenden wird Selbstentwicklung von Selbsterkenntnis abgegrenzt und auf grundlegende Prinzipien der Selbstentwicklung eingegangen.

Selbsterkenntnis kann sich auf mindestens zwei verschiedene Ebenen beziehen: 

  1. Die Ebene von Körper & Geist 
  2. Die Ebene des essentiellen Selbst


Wem nicht klar ist, was es mit beiden Ebenen auf sich hat, dem sei der Text Wer bist du wirklich? empfohlen. In selbigem Text taucht an einer Stelle die Formulierung “psychologische Selbsterkenntnis” auf – das ist eine Facette von Selbstentwicklung auf der Ebene von Körper & Geist. Eine andere Facette von Selbstentwicklung auf dieser Ebene finden wir im Text Ein Meister seines Körpers.

Das vorausgeschickt ist nun folgende Einsicht wichtig: Auf der Ebene von Körper & Geist sind Selbsterkenntnis und Selbstentwicklung identisch. Auf der Ebene des essentiellen Selbst hingegen ist Selbstentwicklung unmöglich. Das essentielle Selbst kann nur erkannt werden, es kann nicht verbessert, entwickelt oder anderweitig verändert werden. Es kann erkannt werden und diese Erkenntnis kann verinnerlicht werden – das essentielle Selbst an sich kann jedoch nicht wachsen. Anders wiederum auf der Ebene von Körper & Geist: Hier ist Wachstum nicht nur möglich, sondern für ein glückliches Leben entscheidend.

Nochmal: Selbstentwicklung und Selbsterkenntnis sind auf Ebene von Körper & Geist identisch. Das bedeutet: Immer wenn wir uns weiterentwickeln, gewinnen wir neue Erkenntnisse über uns selbst. Genauso: Indem wir neue Erkenntnisse über uns selbst gewinnen, entwickeln wir uns weiter. Wir eignen uns neue Fertigkeiten an, akkumulieren Wissen und stärken und entdecken uns dabei selbst. So entsteht auch das viel beschworene Selbstvertrauen: Umso besser wir uns kennengelernt haben, desto mehr vertrauen wir uns.

Es ist die Entwicklung von Körper & Geist, die uns im Leben voran und uns unseren Zielen näher bringt. Selbstentwicklung ist Selbstermächtigung: Macht kommt von machen, und umso mehr ich weiss und kann, desto mehr kann ich machen. Wir ermächtigen uns also indem wir dazulernen – nur was lernen wir? Hier liegt der Hase fett im Pfeffer, denn insbesondere durchs Internet sind mehr Informationen verfügbar, als wir in einem ganzen Leben aufnehmen und verarbeiten könnten. Erfolgreiche Selbstentwicklung erfordert also Selektion: Ob wir erreichen was wir wollen, das hängt von unseren Entscheidungen ab, von den Entwicklungswegen, die wir auswählen.

Uns stehen praktisch unbegrenzte Informationen und Lerninhalte zur Verfügung – doch was nützt uns das, wenn wir nicht wissen, in welche Richtung wir lernen und uns entwickeln wollen? Erfolgreiche Selbstentwicklung erfordert daher ein übergeordnetes Ziel, einen Nordstern, an dem wir unseren Entwicklungsweg ausrichten. Und genau das ist es, was den meisten Menschen im untergehenden Abendland der Gegenwart fehlt.

Stell dir vor, du wärst am Boden einer sehr großen Grube. Am Boden der Grube ist es dunkel und kalt und die Luft ist schlecht. Oben, außerhalb der Grube, scheint tagsüber die Sonne. Ihre Strahlen erreichen auch den oberen Bereich der Grube. Du beginnst also deinen Aufstieg und kletterst mühsam empor. Manchmal rutscht du ab und wirst in deinem Aufstieg zurückgeworfen. Manchmal versperren auch große Steinblöcke deinen Weg und du musst Umwege klettern.

Doch du gibst nicht auf. Du willst unbedingt aus der kalten Dunkelheit raus und ans Licht. Und als du dem Licht mühsam immer näher kommst, triffst du auf andere Menschen. Manche sind augenscheinlich bis gerade eben selbst noch geklettert, andere leben offenbar schon länger in diesem helleren Bereich der Grube: Sie haben Gebäude in und am Hang der Grube errichtet. Es ist eine ganze Ringstadt, einmal im Kreis um den Abgrund herum, und überall herrscht geschäftiges Treiben. Glücklich wirken die Menschen zwar nicht, aber es ist nicht mehr kalt und dunkel und alle scheinen etwas zu tun zu haben.

Du erkundest die Ringstadt und sprichst mit manchem Menschen. Nach einiger Zeit merkst du, dass du einmal im Kreis gegangen und wieder am Ausgangspunkt deiner Stadtrundreise angekommen bist. Da wird dir bewusst, dass offenbar keine Straße weiter nach oben führt – es gab viele Abzweigungen und du hast viele Schlenker gemacht, doch alle Wege haben dich letztlich wieder an deinen Ausgangspunkt geführt. Warum nicht weiter nach oben?

Du fragst die Bewohner der Ringstadt, ob es denn keine Wege nach ganz oben gibt, ganz ins Licht, raus aus der Grube. Doch die Menschen geben wenn überhaupt nur ausweichende Antworten. Die meisten sagen, dass das Leben in der Ringstadt doch gut ist, schließlich ist es weder kalt noch dunkel und alle haben etwas zu tun. Manche werden allerdings regelrecht wütend, als ob deine Frage eine Beleidigung wäre. Da wird dir klar, dass du dich selbst auf die Suche nach dem Weg ans Licht machen musst.

So ist es auch im echten Leben. Du kennst deinen Weg nicht und niemand kann ihn dir zeigen. Dir bleibt nur die Ringstadt oder auf eigene Faust weiterklettern. Solange du das Licht ganz oben siehst, kennst du auch deine Richtung. Aber nachts scheint die Sonne nicht und dann scheint die Ringstadt verlockend. Ob es dir gelingt, die Grube zu verlassen, das hängt davon ab, ob du nachts zurückgehst oder deinen Weg nach oben fortsetzt. Von der Stadt bis zum Rand der Grube ist es ein weiter Weg mit vielen Nächten – und nur wenn du deinem Orientierungssinn in der Finsternis vertraust, kommst du voran.

Dieser Orientierungssinn in der Finsternis braucht den inneren Nordstern, ein übergeordnetes Warum, das dich auch in den dunkelsten Nächten weiter nach oben in Richtung Sonne klettern lässt.

Die meisten Menschen bleiben letztendlich in der Ringstadt. Denn die Ringstadt ist verführerisch: Du kannst dich die ganze Zeit voranbewegen, neue Erfahrungen sammeln, dich weiterentwickeln – doch es gibt einen Unterschied zwischen weiter und nach oben. Weiterzugehen bedeutet vor allem, einen Fuß vor den anderen zu setzen – und das geht auch im Kreis. Und wenn du nicht nur entspannt gehst, sondern sogar rennst, dann lenkt die Anstrengung dich zuverlässig davon ab, dass du der Sonne so nicht näher kommst.

Warum rennen so viele Menschen lieber im Kreis, als langsam nach oben zu klettern?

Weil der Kreis immer beleuchtet ist und es keine anstrengende Steigung gibt. Im Kreis zu laufen ist einfacher, als im Dunkeln einen steilen Abhang zu erklimmen, selbst wenn man sehr schnell läuft. Deswegen bleiben die Menschen in der Ringstadt. Es ist einfach einfacher. Und hey, du kannst auch in der Ringstadt lebenslang dazulernen! Der Nachschub an immer neuen Informationen wird von vielen Anbietern sichergestellt, sodass du jeden Tag ein neues Buch lesen oder einen neuen Film sehen kannst! Und es gibt auch zahllose Berufe, die du erlernen kannst! Und all die Hobbys, die du anfangen könntest! Auch in der Ringstadt kannst du jeden Tag etwas neues erleben! Es gibt garantiert immer etwas zu tun! Also warum sich mit dem mühsamen Aufstieg und den einsamen dunklen Nächten herumschlagen?

Weil weiter und nach oben nicht das Gleiche ist.
Und vom Boden der Grube an die Sonne führt nur ein einziger Weg: Aufwärts.

Kreiswärts oder aufwärts, das ist hier die Frage. Und die Grube verlassen kann nur derjenige, der bereit ist, die Sicherheit der Ringstadt aufzugeben. Doch wer will die Grube überhaupt verlassen? Wer weiss denn, was oben, außerhalb der Grube, wartet? Wer sagt denn, dass es außerhalb der Grube besser als in der Ringstadt ist? In der Grube gibt es zwar nicht viel Licht, aber dafür schützt sie vor Wind. Warum diese vertraute Sicherheit für etwas Unbekanntes aufgeben?

Die meisten Menschen haben keine Antwort auf diese Frage und bleiben in der Grube. Manche machen es sich in ihrem kleinen Häuschen in der Ringstadt gemütlich und gucken dem geschäftigen Treiben auf den Ringstraßen zu. Die Meisten jedoch laufen, immer im Kreis, von einem Job zum nächsten, von einem Hobby zum nächsten, von einer Leidenschaft zur nächsten, immer im Kreis durch die Ringstadt.

Nur die Wenigen, die ein starkes Warum haben, verlassen die Grube. Es sind diese Wenigen, die durch die dunklen Nächte geklettert sind, die schließlich den vertrauten Schutz der Grube verlassen und fortan sowohl Wind als auch Sonne stärker als je zuvor spüren können. Es sind auch diese Wenigen, die ab und an Boten hinunter in die Grube schicken und so die Ringstadt mit Neuigkeiten von oben versorgen. Diese Neuigkeiten werden dann in den Fundus der Ringstadt aufgenommen – und manchmal, in seltenen Fällen, lösen diese Informationen, seien es Bücher, Filme, Erfindungen oder bloße Erzählungen, in einem der Bewohner der Ringstadt etwas aus. Dann beginnt ein inneres Feuer in ihm zu brennen – und dieses Feuer verlangt nach mehr Luft und dem Verlassen der Grube.

Dieses Verlangen des inneren Feuers nach Aufstieg und mehr Luft, das ist der Ruf des Abenteuers und der Beginn der Heldenreise. Doch nicht jeder, der diesen Ruf verspürt, macht sich auch auf den Weg. Manch einer verleugnet und verdrängt den Ruf seiner inneren Stimme – zu groß ist die Angst vor dem Unbekannten außerhalb der Ringstadt. Und so mancher macht sich zwar auf den Weg, aber scheitert.

Auf dem Weg nach oben gibt es zwei Möglichkeiten zu scheitern: Aufgeben oder Abstürzen. Beides passiert, doch das Aufgeben ist häufiger. Denn wer aufgibt, kann in die vertraute Ringstadt zurückkehren. Dort ist er sicher – so wie auch sicher ist, dass es dort nur im Kreis geht. Das Abstürzen ist seltener, denn um Abstürzen zu können, muss man sich erstmal wirklich etwas trauen. Doch auch das passiert. Und wer abstürzt, der kann sich den Hals brechen. Dann ist es aus mit der Kletterei. Doch meistens bricht man sich nicht den Hals, sondern tut sich bloß weh. Dann stellt sich wieder die Frage: Weitermachen oder aufgeben? Aufwärts oder Kreiswärts?

Und manchmal passiert es auch, dass jemand so tief fällt, dass er voller Schrammen wieder ganz am Boden der Grube landet. Dann beginnt das ganze Spiel wieder von vorne. Denn niemand will am Boden der Grube bleiben, zu kalt und dunkel ist es dort. Also wieder hoch, zurück in die Ringstadt. Denn dort brennt immer ein Licht, es nicht mehr so kalt und jeder hat etwas zu tun. Und genau deswegen ist die Ringstadt das größte Hindernis auf dem Weg nach oben. Doch manche klettern – und manche fallen.

Und je öfter jemand ganz hinunter fällt, desto besser lernt er den Boden der Grube und den Weg zur Ringstadt kennen – und verliert so im Laufe der Zeit jede Angst vorm Fallen. Denn er weiss nur zu gut, dass der Boden der Grube weich und matschig ist. Man wird zwar sehr dreckig, doch man bricht sich nichts. Und in der Ringstadt, dort geht es zwar nur im Kreis, doch es gibt allerlei Geschäfte, auch für Kletterausrüstung. Und so begreift schließlich jeder, der weder aufgibt noch sich den Hals bricht, dass es nur an ihm liegt.

Er kann fallen und wieder aufstehen, er kann sich besser vorbereiten, er kann, er kann. Er muss nur wollen. Und ob er auch nach zahlreichen Stürzen immer noch will, das hängt von seinem Warum ab. Dieses übergeordnete Warum sucht man sich genauso wenig aus, wie man sich seine Gedanken aussucht. Doch wie wir uns auch den Umgang mit unseren Gedanken aussuchen können, so können wir uns auch den Umgang mit unserem Warum aussuchen. Die Glut ist uns, ob wir wollen oder nicht, doch es ist allein unsere Entscheidung, was wir mit ihr machen. Wir können sie mit immer mehr Brennstoff füttern, oder wir können sie verglimmen lassen, das ist unsere Entscheidung.

Erfolgreiche Selbstentwicklung besteht darin, uns immer das zuzuführen, was wir brauchen, um unser übergeordnetes Ziel zu erreichen. Unser Ziel mag zuerst nur im Verlassen der Grube bestehen, ohne überhaupt zu wissen, was uns oben erwartet – doch jedes erreichte Ziel bringt neue Ziele hervor. Es kommt nur darauf an, unsere Glut nie verglimmen zu lassen und unser übergeordnetes Ziel bis zum Erreichen nie aufzugeben, egal wie oft wir hinfallen und egal welche Umwege wir klettern müssen.

Selbstentwicklung steht und fällt also letztendlich mit einer einzigen Frage:
Was will ich wirklich?

Nur wer diese Frage mit absoluter Gewissheit für sich beantwortet hat, kennt sein übergeordnetes Ziel, sein Warum.

Und wo ist die Antwort nur zu finden? Am Boden der Grube, in den Tiefen deiner Seele.

Deswegen ist der Weg nach unten und der Weg nach oben letztendlich eins. Umso größer der Baum über der Erde, desto größer seine Wurzeln unter der Erde. Erfolgreiche Selbstentwicklung muss daher immer sowohl nach außen als auch nach innen gehen, nach oben und nach unten. Viele wollen hoch ans Licht – doch die Meisten haben zu viel Angst vor der Dunkelheit der inneren Untiefen und so bleiben ihre Wurzeln zu klein, um groß zu werden.

Dieser Text ist für einen Netzartikel bereits viel zu lang. In diesem Sinne möchte ich mit einem Zitat aus Odin, Nietzsche und der Pfad zur linken Hand zum Ende kommen:

Ob es dir gelingt, ein tief erfüllendes Leben zu leben, das du gerne immer und immer wieder nochmal genauso leben würdest, das entscheidet sich daran, ob du den Mut aufbringst, dich dir selbst zu stellen. Nur wer bereit ist, ganz in die Abgründe seiner eigenen Seele hinabzusteigen und der Wahrheit ins Auge zu sehen, nur der kann sein Leben wahrhaftig tanzen.